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Infoabende

Informationsabende in Berlin - Propaganda

“Unter den Einäugigen ist der Zweiäugige König!”. So oder so ähnlich klingt die Redewendung. Wir neigen zur Vermutung, dass Propaganda nur andere Länder betrift. Kann sein. Aber es lohnt sich wach zu bleiben.

“Propaganda bezeichnet einen absichtlichen und systematischen Versuch, Sichtweisen zu formen, Erkenntnisse zu manipulieren und Verhalten zu steuern, zum Zwecke der Erzeugung einer vom Propagandisten erwünschten Reaktion.”

Um bewusst dagegen zu steuern, möchten wir noch ein Format ins Leben bringen. Bei “Salon des Informations” geht es um:

  • die Möglichkeit, Informationen aus der Presse mit Hintergründen aus erster Hand zu ergänzen
  • eine eigene Position zu formulieren und zu schärfen
  • neue interessante Leute und Sichtweisen zu erleben

Unten sind die relevanten Beiträge zu den Informationsabenden.

Meldet Euch per Mail oder Kommentar, falls Ihr ein Thema und/oder einen Gast vorschlagen wollt!

Wir freuen uns!

Les Garçons

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Mit bewundernswerter Beharrlichkeit kommen meine deutschen Bekannten bei der Diskussion jedes beliebigen Themas im Zusammenhang mit Russland auf die unausweichliche Frage: „Ist Russland irgendwie weitergekommen auf dem Weg in Richtung Demokratie und liberale Werte, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben, oder tritt es noch immer auf der gleichen Stelle?“ Für mich klang diese Frage nach der Demokratie immer wie aus der Bibel: „Was ist Wahrheit?“ Ich fand mich in einer ähnlichen Lage wieder wie Pontius Pilatus, der einem Menschen begegnete, der wirklich wusste (oder glaubte zu wissen), was Wahrheit ist. Daher habe ich in den ersten Jahren meiner Bekanntschaft mit Deutschen und der deutschen Kultur begonnen, ernsthaft darüber nachzudenken, inwiefern ich auf eine so vielschichtige Frage nach Russlands Entwicklung hin zur Demokratie eine wirklich umfassende Antwort geben kann. Allerdings habe ich recht bald gemerkt, dass keiner vorhat, sich auf ein echtes Gespräch zum Thema einzulassen. Zunächst hatte ich angenommen, dass es sich um eine Frage wie „How do you do?“ handelt, auf die man mit „How do you do?“ antwortet, oder in unserem Fall: „Und wie läuft es bei euch mit der Demokratie?“. Doch auch hier hatte ich mich getäuscht. Mehrmals hörte ich Vorträge über das grundlegende Fundament der Demokratie – die liberalen Werte des Westens (natürlich angefangen beim alten Athen, über Rom bis hin zum heutigen Parlamentarismus, den Abschluss bildet die These von Francis Fukujama zum „Ende der Geschichte.

Ich brauchte einige Jahre um zu verstehen, woher dieses lebendige Interesse der Deutschen am Fortschritt der Demokratie in Russland rührt. Ich verstehe erstmals, dass viele Europäer, und insbesondere Deutsche, ganz aufrichtig auch ihren Partnern Wohlergehen* (ich weiß nicht, ob es ein noch passenderes Wort für die Beschreibung der aktuellen deutsch-russischen Beziehungen gibt) wünschen, in der Überzeugung, dass das euro-demokratische System den Schlüssel zu wirtschaftlichem und sozialem Erfolg darstellt.

Für mich handelt es sich hier um eine ganz wesentliche Erkenntnis, die ich dank der recht offenen Gespräche mit meinen deutschen Freunden und im speziellen im Rahmen der Treffen des Salon des garçons gewinnen durfte.

Mir scheint, dass auf russischer Seite die Schwierigkeit mit offenen und unvoreingenommenen Gesprächen darin besteht, dass wir den ernsten Kommunikationsstil der Deutschen als bevormundend empfinden – oft ohne Grund.

Nun kann ich meinen russischen Freunden sagen: „Die Deutschen haben tatsächlich viel und auch tragische Erfahrung darin, demokratische Institutionen aufzubauen, die aus einer aktiven und verantwortungsbewussten bürgerlichen Gesellschaft hervorgehen.

Am 6. Dezember fand in Ivanovo die Sitzung eines regionalen Clubs von Wissenschaftlern und Unternehmern statt, auf der Dr. Sergey Savchuk einen Vortrag über die Club-Kultur in Deutschland und die Bedeutung von solchen Vereinigungen für das öffentliche Leben hielt.

Das Interesse für die europäischen Erfahrungen zur Entwicklung von Institutionen der gesellschaftlichen Selbstorganisation wird in Russland immer offensichtlicher. Zum Beispiel wurde im Regionalparlament von Ivanovo ein spezielles Komitee zur Entwicklung von Instituten der Bürgergesellschaft eingerichtet, das Alexander Petelin leitet, mit dem einige Mitglieder des Salon des garçons persönlich bekannt sind, und der auch den Vorsitz im obengenannten Club der Wissenschaftler und Unternehmer innehat.

Sigmund Freud und der Antipode der Demokratie

In der Unterhaltung mit Deutschen über russische Probleme kann nur ein Begriff der „Demokratie“ noch Konkurrenz machen, und zwar „Autoritarismus“. Dieses Wort erklingt so oft, dass man es fast nicht ignorieren kann, doch es zu diskutieren ist mit Deutschen, wie ich es bereits früher angemerkt habe, sehr schwierig. Man kann eigentlich nur aufmerksam zuhören. Mühsam konnten wir mit einem Gesprächspartner des Salons des garçons herausarbeiten, dass ein autoritäres Regime auch auf demokratischem Wege etabliert werden kann, gar als Ergebnis freier Willensäußerung. Daher ist der Autoritarismus nicht das Gegenteil von Demokratie, was bei einer relativ oberflächlichen Diskussion nicht offensichtlich scheint. Eine tatsächliche Gefahr geht für die Demokratie von der Manipulation des Bewusstseins der Massen aus, die den Menschen den freien Willen entzieht. Diese Manipulation kann in ihrer Form recht harmlos daherkommen, läuft aber auf eine Entmenschlichung hinaus.

Meiner Einschätzung nach liegt der besonderen Empfindlichkeit Deutscher gegenüber der Frage des Autoritarismus ein im nationalen historischen Gedächtnis verankerter Heldenkult zugrunde. In der deutschen Realität fehlt es an Helden, etwa aus den Legenden um Beowulf, um die Nibelungen. Gerade weil das Bild des Helden mit dem Autoritarismus assoziiert wird, der im 20. Jahrhundert Deutschland teuer zu stehen kam, stehen Helden nun „unter Verschluss“.

Mir scheint, es besteht ein gewisser Neid gegenüber Russen (und auch anderen gegenüber), dass diese über ihre Nationalhelden reden und auf große Taten ihrer Vorfahren stolz sein können. Wir können mit großer Begeisterung klassische Komponisten wie Tschaikowski hören, aber eben auch entspannt den heroischen Klängen eines Wagner lauschen.

Hier erinnert man sich doch gleich an den in Russland sehr bekannten österreichischen Psychiater Sigmund Freud, der darauf hinwies, dass unerfüllte (unterdrückte) Wünsche im Menschen einen inneren Konflikt und äußeren Protest hervorrufen.

Die Leute auf dem Bolotnaya-Platz

Aber nun doch noch zur aktuellen Lage. Wer ist im Dezember 2011 in Moskau aus Protest auf die Straße gegangen und warum? Die Organisatoren der Protestaktionen und ihre Losungen hatten meiner Meinung nach wenig gemein mit den Positionen und der Motivation der Mehrheit der Menschen, die an den Straßen-Meetings teilnahmen, die sich natürlich ihrerseits im Alter, in ihrem sozialen Status und in ihren Überzeugungen unterscheiden. Dennoch scheint mir wichtig, dass unter den Teilnehmern nicht wenige waren, die sich selbst vor einiger Zeit noch für völlig unpolitisch hielten und auf die Politik und ihre Politiker „pfiffen“. Das sind Vertreter der sogenannten „kreativen“ Klasse – Menschen, die sich im Unternehmertum, der Wissenschaft, der Bildung, als Ingenieure, im sozialen oder anderen Bereichen engagieren wollen. Ihre Motivation lautet etwa so: „Ich möchte nicht, dass ich in den kommenden 12 Jahren bei der Umsetzung meines schöpferischen Potenzials ständig an irgendwelche Grenzen stoße.“ Sie kritisieren, dass sich das derzeitige politische System und die wirtschaftliche Praxis mit ganz wenigen Ausnahmen auf eine Umverteilung der vorhandenen Ressourcen orientieren, mit dem Ziel, „jetzt und hier“ einen Vorteil zu erlangen.

Es besteht praktisch kein Interesse daran, längerfristige Lösungen mit Perspektive zu finden. Aufgrund ihres kultivierten Benehmens, ihrer Bildung und ihres Verantwortungsbewusstseins der Wirklichkeit gegenüber fehlt diesen Menschen, die an den Meetings teilgenommen haben, jede Neigung zum Extremismus oder gewalttätigen Handlungen. Die Form ihrer Reaktion kann aber zum bürgerlichen Ungehorsam und zur Diskreditierung der staatlichen Institutionen im Bewusstsein der Massen führen.

Diese Menschen schweigen momentan noch still, sie halten überwiegend still, aber sie denken schon nicht mehr nur still vor sich hin. Noch sprechen sie der aktiven Elite das Recht auf eine konstruktive Antwort nicht ab, aber sie glauben immer weniger daran.

* im Original lautet der verwendete Begriff „Blühen, Aufblühen“, Anmerkung der Übersetzerin

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Anbei noch die Präsentation von dem Abend zum Nachlesen

VIEL ZU TUN

Putin bei der Arbeit

Putin bei der Arbeit

UNMITTELBARE OPPOSITION

Opposition in Russland

Opposition in Russland

RUSSISCHES BRAINSTORMING

Brainstorming in Russland

Brainstorming in Russland

RUSSISCHE KREATIVITÄT

Russische Kreativität

Russische Kreativität

RUSSLAND IST EIN SCHÖNES LAND

Baubehörde

Baubehörde

EIN HOCH AUF POTEMKIN

Putin ist weg

Putin ist weg

RICHTIGE WEGE

Strassen in Russland

Strassen in Russland

HABEN SIE NOCH ANGST?

Russische Armee

Russische Armee

Armee in Russland

Armee in Russland

HIER VERTRAUT MAN DEN KOLLEGEN

Vertrauen in Russland

Vertrauen in Russland

YOU ARE WELLCOME!

Russische Strassen

Russische Strassen


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Obwohl die letzten Ereignisse in Russland durch andere „wichtige“ Nachrichten, wie Wulffs Verhalten, überschattet sind, ist das Kapitel noch nicht abgeschlossen. Deswegen haben wir Anfang dieses Jahres ein Treffen zum Thema Russland organisiert und einen Gast eingeladen, um Informationen aus erster Hand zu bekommen.

Prof. Dr. habil. Sergey Mishurov ist nicht nur ein Wissenschaftler und Unternehmer, sonder mischt sich auch aktiv in die Politik ein. Mein Beitrag ist kein Protokoll im herkömmlichen Sinne, sondern eine Sammlung von persönlichen Eindrücken, die für den einen oder anderen interessant sein könnte, aber im wesentlichen mir helfen, das Erfahrene zu strukturieren und nicht gleich verschwinden zu lassen.

Ein Abend von dem Treffen hat uns Christian sehr geholfen die Hauptschwierigkeiten für so einen Austausch zu entdecken:

  • Motivation:  da Russland für viele weit weg ist, sieht man keinen unmittelbaren Mehrwert darin, die Situation vor Ort, wie sie ist, zu begreifen. Die Motivation vom Westen/Osten etwas zu lernen ist in Russland größer als umgekehrt.
  • Thematisches Interesse: wenn man über Russland etwas wissen möchte,  kommen immer wieder die gleichen Fragen hoch: „Gab es Wahlmanipulationen?“, „Wie viele demonstrieren?“, „Was ist mit Demokratie?“, „Wird Putin zum Präsidenten gewählt?“ usw. Und das sind nicht die aktuellsten Fragen, die Russen sich selbst im Moment stellen
  • Wortschatz: Kinder, die einen Löwen gesehen haben und von den Eltern erklärt bekommen, dass es eine Wildkatze ist, würden erst mal nicht einen Panther als Wildkatze erkennen. Unterschiedliche Bilder hinter den Begriffen führen dazu, dass man über „Opposition“ spricht und etwas ganz anderes meint.
  • Propaganda: Das, was man von bekannten Quellen hört, scheint erst mal wahr. Alles Fremde ist erst mal suspekt. Je tiefer und grundlegender die Frage ist (je näher zur Philosophie), desto mehr ist man bereit, das bestehende zu verteidigen. So ist mir mein Häuschen, wenn es auch nicht perfekt ist, jetzt lieber, als ein vom Fundament an neu gebautes mit einer Gefahr länger im Regen zu stehen.

Deswegen haben wir versucht, die Spannung aus der Diskussion zum Teil rauszunehmen und haben einen anderen Einstieg gewählt. Und jetzt ein paar inhaltlichen Gedanke/Ideen/Stichpunkte aus der Diskussion, unsortiert:

  • Opposition auf der Straße 50 000 bis 100 000, überwiegend in Moskau. In Regionen so gut wie keine Relevanz. Opposition vertritt Aussagen „Die Wahlen wurden manipuliert“ und „Putin muss weg“, bietet aber keine Alternativen (deswegen bisher keine breite Unterstützung im Volk). Ist zum Teil mit ausländischem (zum größten Teil amerikanischem) Kapital unterstützt, was mittlerweile offen zugegeben wird mit der Begründung „es gibt keine andere Möglichkeit für die Bürgerrechte zu kämpfen“
  • Die Wahlmanipulationen fanden statt, was aber den Westen viel mehr interessiert, als die Russen selbst. Deren akute Fragen sind „Gibt es ein neue Idee/Ideologie, an die ich glaube?“ und „Welche politische Macht hat tatsächlich das Potenzial, diese zu realisieren?“
  • Putin scheint das Vertrauen zum Teil verspielt zu haben, keine andere Kraft bietet aber im Moment glaubwürdig eine Idee oder einen Willen. Deswegen sind viele „gegen“ und nicht „für“
  • Die Hauptoppositionsparteien verbindet man in Russland mit Ultraliberalismus (da kommen die Chaos-Bilder aus der Perestrojka und Post-Perestrojka-Zeit hoch) oder Kommunismus vom alten Format (nicht alle wollen zurück in die Zukunft).  Die neuen Parteien haben aus Sicht des Elektorats kein scharfes Profil und sind von Mitgliedern der zwei anderen und der führenden Partei infiltriert.
  • Man ist sich auch nicht sicher, ob zumindest eine der oppositionellen Parteien tatsächlich die komplette Macht übernehmen oder nur eigene Interessen im Dialog mit der führenden Partei aushandeln möchte. Es gibt große Zweifel an der Geschlossenheit innerhalb der oppositionellen Parteien, die zum Teil als individuelle Franchising-Unternehmer unter einer Marke, aber ohne gleiche Produkte, geschweige denn Werte, auftreten.
  • Putin wird als Zar wahrgenommen. Die Zaren-Rolle erfährt noch immer eine breite Akzeptanz, das Vertrauen in Putin als guter Zar schwindet jedoch. Deswegen läuft die Suche nach einer verbindenden Idee in vollen Zügen, nicht nur in der Opposition.
  • Eine mögliche Richtung ist die Verschiebung des Fokus vom Westen nach Osten
  • Man merkt, dass das Kopieren des Westens in Russland nicht so gut funktioniert wie erwartet (China scheint im Kopieren und Adaptieren besser zu sein)
  • Mit Russland sind noch viele Ängste verbunden. Respekt hat man aber nicht! Wenn es um die Frage geht, was Russland der Welt anbieten kann, fallen Worte wie „Gas und andere Ressourcen“, sowie endlich „Einführung der Demokratie“,  um die Stabilität und Prognostizierbarkeit eines neuen Absatzmarktes  und für eigene politische Entscheidungen, zu sichern. Im Westen kann man nicht nachvollziehen, wie man in einem an Bodenschätzen so reichen Land so schlecht leben kann. Kann nur an der schlechten undemokratischen Führung liegen!
  • In Russland werden die Wahlen bei einigen betrachtet als eine großflächige soziologische Befragung nach dem Wohlbefinden der Nation. Die meisten Wähler erwarten nicht wirklich, dass eine neue Elite kommt (woher auch?), sondern geben ihr Feedback zur heutigen Politik. Die Elite muss aber diese Signale schnell verarbeiten und beweisen, dass der Thron in guten Händen ist, sonst wird das Verlangen nach einem neuen Zar groß, was bis zum Bürgerkrieg führen kann
  • Da die Unzufriedenheit offensichtlich wächst und man mit einer relativen Stabilität und dem in einigen Teilen des Landes leicht steigenden Wohlstand nicht mehr zufrieden ist, muss sich Putin bewegen. Die Handlungsalternativen sind vielfältig, von Repressionen in der eigenen Partei, die manchmal realitätsfremd agiert, bis zum Aufbau von Inseln einer echten, vom westlichen Kapital unabhängigen Zivilgesellschaft (Repressionen sind einfacher und kurzfristiger möglich).
  • Auch in Deutschland gibt es offene Fragen: „Leitidee?“, „Inwiefern hat die Leitkultur mit Autorität zu tun?“, „Ist der Kapitalismus am Ende oder reichen leichte Modifikationen?“, „Was tun angesichts der wachsenden politischen Apathie der Bevölkerung?“. Aber Russland scheint kein besseres System zu sein. Deswegen kein Interesse
  • Gleichzeitig kann man nicht einfach die Menge an Bodenschätzen und ca. 500 Mlrd in amerikanischen Anleihen, sowie Weltraumfahrten und Atomraketen übersehen
  • Genauso wie sich das russische Volk innerhalb des Landes nach normalen menschlichen Verhältnissen sehnt, sucht Russland im internationalen Raum nach Anerkennung.  Und wenn keine konstruktiven Ideen gefunden oder gehört werden, kann die Situation eskalieren.

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Thesen des Vortrags: „Im Osten nichts Neues?“ (Neue Entwicklungen in der russischen Wirtschaft, Politik und Ideologie?)

  1. Wichtig für das Verständnis dessen, was im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben Russlands passiert, ist die Frage, inwieweit man die russische Kultur (Mentalität) als europäische betrachten kann. Von der Antwort auf diese Frage wird hauptsächlich die Interpretation gegebener Tatsachen  abhängen, auch im Rahmen meines Vortrages.
  2. Dazu gibt es im Russischen ein ziemlich brutales Sprichwort, das noch aus der Zeit stammt, als man alle Ausländer in Russland „Deutsche“ (nemzy = die Sprachlosen) nannte: “Was für den Russen gut ist, ist für den Deutschen der Tod”. Wenn man Erscheinungen unseres russischen Lebens betrachtet, stirbt man natürlich nicht unbedingt, aber manchmal gibt es tatsächlich Anlass zum Lächeln. Als Beispiel hat der Vorsitzende des russischen Bundestags (Duma) gesagt: “Das Parlament ist nicht der richtige Ort zum diskutieren!”[1]. Obwohl das genau so absurd klingt wie z.B. “der Kindergarten ist kein Ort zum spielen”, wird darüber gewitzelt, aber man akzeptiert es.
  3. Wenn wir über Russland sprechen, führt der Wunsch nach Transparenz zu Missverständnissen. Um zu verstehen wie die Gesellschaft funktioniert, versucht man sich mit der institutionellen Form auseinander zusetzen. Wir verstehen aber oft unter den gleichen Begriffen nicht das gleiche.

Informationsabende in Berlin - Klischee über Russland

i Klischee oder…?

  1. Literatur, Philosophie und Soziologie sind sich nicht einig darüber, ob man berechtigt ist, Russland und seine Kultur als Teil von Europa zu betrachten. Die Palette der Meinungen dazu kann man in zwei philosophische Richtungen teilen: Slawophile und Westler. Der erste Blickwinkel stützt sich auf die ursprünglichen Unterschiede zwischen den europäischen und slawischen Kulturen und auf ihre Unvergleichbarkeit, und folglich auf die Unmöglichkeit, mit Fachwörtern der einen Kultur die Realien der anderen Kultur zu erklären oder sogar zu beschreiben. Der zweite Blickwinkel spricht umgekehrt von einer Einheit nicht so sehr der weltweiten, aber immerhin der europäischen kulturellen Entwicklung. Die letzte Behauptung bedeutet, dass es Unterschiede nur in den Stadien der Entwicklung, die Länder  und Völker durchgehen,  gibt.
  2. Der deutsche Philosoph Oswald Spengler ist zu mindestens in Russland der wahrscheinlich bekannteste europäische „Slawophile“. In seinem berühmten Werk „Der Untergang des Abendlandes“ kommt er zu dem Schluss, dass es falsch ist, mit westeuropäischen Augen Russland zu betrachten, vom Gesichtspunkt der europäischen sozialen Ideologien das russische Volk wie ein beliebiges Volk „Europas“ einzuschätzen. Man muss das russische Volk und seine Seele verstehen, die in der politischen und wirtschaftlichen Tätigkeit, im Alltag  dargestellt wird. Und dann entdeckt man, dass der Russe uns innig sehr fremd ist, genauso wie der Hindu oder der Chinese, deren Seele wir nicht begreifen können. „Mag der seelische und also der religiöse, politische, wirtschaftliche Gegensatz zwischen Engländern, Deutschen, Amerikanern, Franzosen noch so tief sein, im Vergleich zum Russentum rücken sie sofort zu einer geschlossenen Welt zusammen“ – sagte O. Spengler in „Das Doppelantlitz Russlands und die deutschen Ostprobleme“.
  3. Eine Besonderheit von Russland ist, dass seine Idee oder sogar Utopie viel wichtiger für die Selbstorganisation der Gesellschaft ist als verschiedene Organisationsformen (sei es Parlament, Gewerkschaften, Verbände und so endliches). Alleine die Steuerung des Riesenterritoriums verlangt nach einer verbindenden und gemeinsamen Ideologie. Das historische Volksgedächtnis ruft nach einer Utopie (obwohl diese in unserer Verfassung eindeutig verboten ist).
  4. Die russische Geschichte zeigt, dass unser Volk nur eine leitende Idee vertragen kann. Öffentliche ideologische Diskussionen können direkt zum Bürgerkrieg führen. Der Grund dafür ist die russische Mentalität mit ihrer “Schwarz-Weiß”-Sicht, wenn es um Ideologie und Macht geht. Diese Mentalität ist nach O. Spengler typisch für junge Volker im Gegensatz zu reifen westeuropäischen Kulturen.
  5. Man kann sicher behaupten, dass Russland viele Jahrhunderte lang von Europa lernte, seine Erfahrungen übernahm, besonders in Fragen des Arrangements des materiellen Lebens, in der Lebensweise: die Verfahren der deutschen Handwerker, Nähmaschinen von Singer, elektrische Maschinen von Siemens oder die modernen Schnellzüge („Sapsan“). Russland übernahm Ideen und überarbeitete sie auf seine eigene Weise, oft ziemlich radikal. Es gibt viele Beispiele dafür, etwa die Philosophie von Kant, Hegel, Marx.
  6. Neben Hanf und Holz (und im 21. Jahrhundert neben dem Erdöl und Gas) gab Russland an Europa seine Ideen zurück, aber schon als kreativ verarbeitete und in der sozialen Praxis ausgetestete Weiterentwicklung. Die rein europäische Idee des Sozialismus kehrte nach Europa in Form der kommunistischen Utopie zurück und beeinflusste wesentlich ihren Geschichtsverlauf im 20. Jahrhundert.
  7. Heutzutage arbeitet Russland schöpferisch die kapitalistische Doktrin durch, führt sie auf Grund seines Charakters bis zum Äußersten, bis zur Utopie (oder vielleicht eher bis zur Antiutopie). Hier gibt es einige Beispiele dafür, was heutzutage das sozial-wirtschaftliche Modell Russlands ist.

Kleid des Liberalismus - Informationsabende in Berlin

ii Passt das Kleid des Liberalismus?

  1. In den 90er Jahren überwogen kurz vor den revolutionären politischen Reformen in der Struktur der sowjetischen (russischen) Wirtschaft die Industriezweige der Produktion von Produktionsmittel, und nur Reste der Ressourcen entfiel auf die Produktion der Konsummittel. Diese Struktur wurde von einer wirtschaftlichen Elite unterstützt, die sich noch unter Stalin herausgebildet hatte und die unter Mobilisierungsbedingungen für diese Aufgaben sehr effektiv war.
  2. In der Struktur der russischen Einfuhren bis zu den 90er Jahren betrugen die im Westen gekauften Produktionsmittel mehr als 50% aller Produktionsmittel, und nur 30% der Konsummittel kamen aus dem Westen. Heutzutage verhält es sich anders – Russland kauft mehr Konsumgüter und Nahrungsmittel. Dieselbe Situation gilt für die Ausfuhr – der Anteil der fertigen Produktion für zivile und militärische Zwecke sank von 40% auf 8%, der Anteil an Rohstoffen stieg von 55% auf 85%.
  3. Das ist die Folge eines bedeutenden Strukturwandels in wirtschaftlichen und sozialen gesellschaftlichen Bereichen. Während der letzten 20 Jahre fanden spürbare Veränderungen statt, die mit der Liberalisierung verbunden sind und auf die die Russen kaum verzichten könnten:
  • Heute fahren jährlich vier Mal mehr Russen ins Ausland als im Jahr 1990 (etwa 10%);
  • eine Hochschulausbildung ist heute eher zu erlangen als unter der Sowjetmacht, obwohl es kritische Bemerkungen über  ihre Qualität gibt (etwa 20 % Russen haben eine Hochschulausbildung);
  • das Internet nutzen 30% der Bevölkerung;
  • Russen können Einzelunternehmer werden – der Anteil von kleinen und mittelständischen Betrieben beträgt etwa 15% nach der Zahl der Beschäftigten und etwa 10% im Bruttoinlandsprodukt;
  • eine sehr bedeutende Entwicklung hat der Konsumsektor im Bereich der Nahrungsmittel, Retail, erfahren.
  1. Diese Entwicklung gibt Anlass für einen bestimmten Optimismus, der aber durch folgende Umstände beschränkt ist:
  • während der ganzen Zeit der  Reformen wächst stabil eine Schichtung der Bevölkerung. Lag der Dezil-Koeffizient im Jahre 1991 noch bei 6, liegt er zum Jahr 2010 nach offiziellen Angaben schon  bei 16, und nach einigen Experteneinschätzungen hat er tatsächlich die 20 bereits überschritten (das ist eine der grundlegenden Tendenzen, die sich bei Jeltzin, Putin, Medvedev nicht veränderte); das heißt, dass auf jeden Rubel Einkommenserhöhung in der ärmsten Gruppe 8 Rubel des Einkommenszuwachses in der reichsten Gruppe kommen; in Russland ist eine regressive Skala der Einkommensbesteuerung von 13% für alle und von 9% für die Einkommen von Kapital gesetzlich vorgegeben;
  • die Mittelklasse als eine relativ zahlreiche Sozialschicht, die die Vorteile der Liberalisierung des wirtschaftlichen Lebens genießt, wird immer kleiner; das bedeutet, dass es fast keine soziale Stütze für die Fortsetzung des liberalen Kurses in der Gesellschaft  gibt; das verursachte eine Massenemigration von Unternehmern ins Ausland – nach Angaben aus den Medien wohnen jetzt in verschiedenen Vororten Londons mehrere Tausend Familien[2], die ein Unternehmen in Russland besitzen und von dem Einkommen daraus leben; dasselbe gilt teilweise auch für die Verwaltungselite und für die politische Elite;
  • der Unterschied im mittleren Einkommen pro Kopf zwischen den reichsten und den ärmsten Gebieten des Landes beträgt mehr als den Faktor 10.
  1. Die Mittelschicht als soziales Fundament der liberalen Idee verschwindet nachhaltig seit Jelzins Zeit und bis zum heutigen Tage. Das bedeutet, dass es fast keine soziale Stütze für die Fortsetzung des liberalen Kurses in der Gesellschaft  gibt und die Wortverbindung “einheitliches Russland” (so der Name der Regierungspartei) kann man nur ziemlich relativ verstehen. Diese Bezeichnung wird von manchen als Oxymoron wie „gebratenes Eis“ wahrgenommen.
  2. Die Russische Mentalität neigt zur Übertreibung, deswegen verwandelt sich der Russische Liberalismus in den eigenen Gegensatz. Als Beispiel führt der Verzicht auf direkte staatliche Steuerung zu der extremen Monopolisierung der Wirtschaft und ungerechter Verteilung zwischen Wirtschaftssegmenten.
  3. Heutzutage hat sich die für Russland vorgeschlagene Idee des Primates der materiellen Werte in die äußerste Formen des Zynismus  transformiert, die von ihren Adepten gezeigt werden, von denen, die sich als „Liberale“ bezeichnen. Hauptsächlich dadurch wird in Russland der Begriff des „Liberalismus“ völlig diskreditiert.
  4. Die derzeitige leitende Idee lautet: “materieller Wohlstand ohne moralische Begrenzungen”. Nach Jelzins Botschaft: “Nehmen Sie alles was Sie verdauen können!”[3]. Personifiziertes Symbol für diese Ideologie ist der russische Oligarch Roman Abramowitsch.
  5. Der russische Philosoph Nikolaj Berdjaew hat vermutet, dass die Begeisterung Russlands für die Idee des Kommunismus eine Folge einer Interpretation im Sinne der orthodoxen Idee des Erschaffens eines „gerechten Reiches“ ist. Gerade die Unvollendetheit dieser Suche bestimmt die Ansprüche, die die Gesellschaft für politische und teilweise wirtschaftliche Eliten geltend macht.
  6. Dem Vorbild vom Schöpfer des Kommunismus, vom Menschen, der den anderen einen Weg bahnt (vielleicht wird dieser am besten in der Persönlichkeit von Jurij Gagarin gezeigt) wird die Figur eines zynischen Raffers entgegengestellt, der sich als Herr des Lebens  fühlen will, aber in der Wirklichkeit zu einem Außenseiter im gesellschaftlichen Bewusstsein wurde (Figuren wie Boris Berezowskij, Roman Abramowitsch).
Gagarin - Herrenabende in Berlin Abramowich Infoabende in Berlin
Jurij Gagarin Roman Abramowitsch

iii Welche Ideologie ist attraktiver?

  1. Die Jahre des totalen (eben in der Art von Friedrich von Hayek) Liberalismus haben gezeigt, dass diese Idee die russische Gesellschaft überhaupt nicht mitreißen kann. Mehr Reiz hat eine Idee, die in die Zukunft sieht – die Idee einer harmonischen Entwicklung, die sich auf die Erkenntnis der menschlichen und kulturellen Einzigartigkeit stützt. Diese Idee kann die Grundlage sein für Zusammenarbeit und die Überwindung des „Kriegs aller gegen alle“ („Bellum omnium contra omnes in der Terminologie von Thomas Hobbes), ein Zustand, zu dem, wie George Soros meint[4], die liberale Gesellschaft zurückgekehrt ist.
  2. Wenn man in diesem Zusammenhang jetzt über mögliche Veränderungen spricht, so muss man feststellen, dass es wahrscheinlich nicht um Rezepte der Systemvervollkommnung  geht, sondern um einen wesentlichen Wandel der Prinzipien der Gesellschaftsordnung und entsprechend der Wirtschaft.
  3. Der Prozess der ideologischen Formierung kann nicht im Rahmen der politischen Parteien verwirklicht werden. Diese Institution ist bei uns nicht den westlichen Vorstellungen entsprechend entstanden und wird wohl kaum noch entstehen. Da jetzt die breite Masse der Bevölkerung die liberale Idee nicht mehr unterstützt, ist es nicht so relevant, ob bei den kommenden Wahlen Putin oder Medvedev gewinnt. Die wichtige Frage ist, ob eine neue Ideologie formuliert wird.
  4. In dem Kontext wird Medvedev als Vermittler einer amerikanischen Sichtweise (Neokonservatismus) wahr genommen. Medvedev bedeutet teilweiser Verzicht auf Souveränität als Gesamtstaat und Integration mit dem Westen, aber nicht als Ganzes sondern in mehreren voneinander unabhängigen Teilen des Landes, wie es der amerikanische Politologe Zbigniew Brzeziński[5] vorhersagt.
  5. Im Gegensatz dazu assoziiert man Putin mit der Einhaltung der Ausgegrenzten des Landes. Dabei gehen die Szenarien von liberaler Diktatur a-la Pinochet bis zu der Mobilisierung der Gesellschaft nach Stalin Art.
  6. Obwohl eine offizielle Diskussion über das zukünftiger Gesicht Russlands nicht stattfindet, vollzieht sich im Hintergrund dieser Diskurs jetzt ziemlich aktiv im wissenschaftlich-akademischen Milieu, das in Russland als Intelligenz (intelligentsia) bezeichnet wird (dies entspricht nicht dem westlichen Begriff der „intellectual“). Die Intelligenz als Phänomen des gesellschaftlichen Lebens hat ihren Ursprung in der aufklärerischen Umgebung der orthodoxen Klöster des 13. – 14. Jahrhunderts. Sie trat organisch ins universitäre System der Wissenschaft und Ausbildung ein, das in Russland hauptsächlich auf Grund der Ideen und Modelle von Humboldt gebaut wurde.
  7. Jener Teil der Vertreter der Geisteswissenschaften und der modernen russischen Philosophie, an dem meine Kollegen sehr aktiv mitwirken, organisiert sich um das Zentrum für gesellschaftliche Wissenschaften bei der Moskauer Staatsuniversität.
  8. Von bedeutendem Interesse kann in diesem Zusammenhang das Erbe der russischen religiösen Philosophie vom Ende des 19. – Anfang des 20. Jahrhunderts  sein, in dem die Grundlagen für den Aufbau der Gesellschaft enthalten sind. Dieser Aufbau beruht auf den hohen geistigen Idealen des traditionellen orthodoxen Christentums, die in der sozialen Praxis durch die dem heutigen Niveau der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechende sozialen Institute verwirklicht werden.
  9. Das bedeutet, dass Russland mit der Besinnung auf seine jahrhundertealte, teils begeisternde, teils tragische Erfahrung, nicht von sich aus die Verantwortung für die Entwicklung der Ideen von der harmonischen Gesellschaftsordnung im 21. Jahrhundert  ablehnt.
  10. Die aktuellen ideologischen und politischen Prozesse in Russland werden Europa und Deutschland definitiv beeinflussen, deswegen wäre es aus meiner Sicht wichtig, dass die deutsche politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Elite auch den Hintergrund des jetzigen Prozess versteht. Und dass geht mit einem aktiven direkten Dialog auf operativer Ebene.
  11. Russland braucht gerade jetzt reiche westliche Erfahrung und historische entwickelte Weisheit von Europa und kann im Gegenzug wahrscheinlich auch wertvolle Impulse geben.

Dr. S. Mishurov

Lions Club Berlin Dahlem (Berlin 5. Mai 2011)


[1] Am 29.12.2003 verkündete Boris Gryzlov anlässlich seiner Wahl zum Sprecher der Staatsduma: „Mir scheint, die Staatsduma ist nicht der richtige Ort, an dem man politische Schlachten austragen oder irgendwelche politischen Losungen und Ideologien verteidigen müsste“. http://transcript.duma.gov.ru/node/1386/

[2] Londongrad: From Russia with Cash: The Inside Story of the Oligarchs by Mark Hollingsworth & Stewart Lansle // The Sunday Times. July 26, 2009

[3] Dieser Ausspruch fiel bei einem Treffen mit der Öffentlichkeit in der Kazaner Staatlichen Universität am 8.8.1990 und legte den Grundstein für eine schnelle Entwicklung des Separatismus in Russland; ebenso diente er als Losung der bevorstehenden Privatisierung in der Mitte der 90er Jahre..

[4] G. Soros: «Ich behaupte, daß eine offene Gesellschaft auch … bedroht werden kann: von übertriebenem Individualismus, von Zuviel Konkurrenz und Zuwenig Kooperation.» Die kapitalistische Bedrohung // DIE ZEIT, April 1997 (The Capitalist Threat // The Atlantic Monthly, February 1997 Volume 279, No. 2).

[5] Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Beltz Quadriga, Weinheim 1997

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