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Obwohl die letzten Ereignisse in Russland durch andere „wichtige“ Nachrichten, wie Wulffs Verhalten, überschattet sind, ist das Kapitel noch nicht abgeschlossen. Deswegen haben wir Anfang dieses Jahres ein Treffen zum Thema Russland organisiert und einen Gast eingeladen, um Informationen aus erster Hand zu bekommen.

Prof. Dr. habil. Sergey Mishurov ist nicht nur ein Wissenschaftler und Unternehmer, sonder mischt sich auch aktiv in die Politik ein. Mein Beitrag ist kein Protokoll im herkömmlichen Sinne, sondern eine Sammlung von persönlichen Eindrücken, die für den einen oder anderen interessant sein könnte, aber im wesentlichen mir helfen, das Erfahrene zu strukturieren und nicht gleich verschwinden zu lassen.

Ein Abend von dem Treffen hat uns Christian sehr geholfen die Hauptschwierigkeiten für so einen Austausch zu entdecken:

  • Motivation:  da Russland für viele weit weg ist, sieht man keinen unmittelbaren Mehrwert darin, die Situation vor Ort, wie sie ist, zu begreifen. Die Motivation vom Westen/Osten etwas zu lernen ist in Russland größer als umgekehrt.
  • Thematisches Interesse: wenn man über Russland etwas wissen möchte,  kommen immer wieder die gleichen Fragen hoch: „Gab es Wahlmanipulationen?“, „Wie viele demonstrieren?“, „Was ist mit Demokratie?“, „Wird Putin zum Präsidenten gewählt?“ usw. Und das sind nicht die aktuellsten Fragen, die Russen sich selbst im Moment stellen
  • Wortschatz: Kinder, die einen Löwen gesehen haben und von den Eltern erklärt bekommen, dass es eine Wildkatze ist, würden erst mal nicht einen Panther als Wildkatze erkennen. Unterschiedliche Bilder hinter den Begriffen führen dazu, dass man über „Opposition“ spricht und etwas ganz anderes meint.
  • Propaganda: Das, was man von bekannten Quellen hört, scheint erst mal wahr. Alles Fremde ist erst mal suspekt. Je tiefer und grundlegender die Frage ist (je näher zur Philosophie), desto mehr ist man bereit, das bestehende zu verteidigen. So ist mir mein Häuschen, wenn es auch nicht perfekt ist, jetzt lieber, als ein vom Fundament an neu gebautes mit einer Gefahr länger im Regen zu stehen.

Deswegen haben wir versucht, die Spannung aus der Diskussion zum Teil rauszunehmen und haben einen anderen Einstieg gewählt. Und jetzt ein paar inhaltlichen Gedanke/Ideen/Stichpunkte aus der Diskussion, unsortiert:

  • Opposition auf der Straße 50 000 bis 100 000, überwiegend in Moskau. In Regionen so gut wie keine Relevanz. Opposition vertritt Aussagen „Die Wahlen wurden manipuliert“ und „Putin muss weg“, bietet aber keine Alternativen (deswegen bisher keine breite Unterstützung im Volk). Ist zum Teil mit ausländischem (zum größten Teil amerikanischem) Kapital unterstützt, was mittlerweile offen zugegeben wird mit der Begründung „es gibt keine andere Möglichkeit für die Bürgerrechte zu kämpfen“
  • Die Wahlmanipulationen fanden statt, was aber den Westen viel mehr interessiert, als die Russen selbst. Deren akute Fragen sind „Gibt es ein neue Idee/Ideologie, an die ich glaube?“ und „Welche politische Macht hat tatsächlich das Potenzial, diese zu realisieren?“
  • Putin scheint das Vertrauen zum Teil verspielt zu haben, keine andere Kraft bietet aber im Moment glaubwürdig eine Idee oder einen Willen. Deswegen sind viele „gegen“ und nicht „für“
  • Die Hauptoppositionsparteien verbindet man in Russland mit Ultraliberalismus (da kommen die Chaos-Bilder aus der Perestrojka und Post-Perestrojka-Zeit hoch) oder Kommunismus vom alten Format (nicht alle wollen zurück in die Zukunft).  Die neuen Parteien haben aus Sicht des Elektorats kein scharfes Profil und sind von Mitgliedern der zwei anderen und der führenden Partei infiltriert.
  • Man ist sich auch nicht sicher, ob zumindest eine der oppositionellen Parteien tatsächlich die komplette Macht übernehmen oder nur eigene Interessen im Dialog mit der führenden Partei aushandeln möchte. Es gibt große Zweifel an der Geschlossenheit innerhalb der oppositionellen Parteien, die zum Teil als individuelle Franchising-Unternehmer unter einer Marke, aber ohne gleiche Produkte, geschweige denn Werte, auftreten.
  • Putin wird als Zar wahrgenommen. Die Zaren-Rolle erfährt noch immer eine breite Akzeptanz, das Vertrauen in Putin als guter Zar schwindet jedoch. Deswegen läuft die Suche nach einer verbindenden Idee in vollen Zügen, nicht nur in der Opposition.
  • Eine mögliche Richtung ist die Verschiebung des Fokus vom Westen nach Osten
  • Man merkt, dass das Kopieren des Westens in Russland nicht so gut funktioniert wie erwartet (China scheint im Kopieren und Adaptieren besser zu sein)
  • Mit Russland sind noch viele Ängste verbunden. Respekt hat man aber nicht! Wenn es um die Frage geht, was Russland der Welt anbieten kann, fallen Worte wie „Gas und andere Ressourcen“, sowie endlich „Einführung der Demokratie“,  um die Stabilität und Prognostizierbarkeit eines neuen Absatzmarktes  und für eigene politische Entscheidungen, zu sichern. Im Westen kann man nicht nachvollziehen, wie man in einem an Bodenschätzen so reichen Land so schlecht leben kann. Kann nur an der schlechten undemokratischen Führung liegen!
  • In Russland werden die Wahlen bei einigen betrachtet als eine großflächige soziologische Befragung nach dem Wohlbefinden der Nation. Die meisten Wähler erwarten nicht wirklich, dass eine neue Elite kommt (woher auch?), sondern geben ihr Feedback zur heutigen Politik. Die Elite muss aber diese Signale schnell verarbeiten und beweisen, dass der Thron in guten Händen ist, sonst wird das Verlangen nach einem neuen Zar groß, was bis zum Bürgerkrieg führen kann
  • Da die Unzufriedenheit offensichtlich wächst und man mit einer relativen Stabilität und dem in einigen Teilen des Landes leicht steigenden Wohlstand nicht mehr zufrieden ist, muss sich Putin bewegen. Die Handlungsalternativen sind vielfältig, von Repressionen in der eigenen Partei, die manchmal realitätsfremd agiert, bis zum Aufbau von Inseln einer echten, vom westlichen Kapital unabhängigen Zivilgesellschaft (Repressionen sind einfacher und kurzfristiger möglich).
  • Auch in Deutschland gibt es offene Fragen: „Leitidee?“, „Inwiefern hat die Leitkultur mit Autorität zu tun?“, „Ist der Kapitalismus am Ende oder reichen leichte Modifikationen?“, „Was tun angesichts der wachsenden politischen Apathie der Bevölkerung?“. Aber Russland scheint kein besseres System zu sein. Deswegen kein Interesse
  • Gleichzeitig kann man nicht einfach die Menge an Bodenschätzen und ca. 500 Mlrd in amerikanischen Anleihen, sowie Weltraumfahrten und Atomraketen übersehen
  • Genauso wie sich das russische Volk innerhalb des Landes nach normalen menschlichen Verhältnissen sehnt, sucht Russland im internationalen Raum nach Anerkennung.  Und wenn keine konstruktiven Ideen gefunden oder gehört werden, kann die Situation eskalieren.

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