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Mit bewundernswerter Beharrlichkeit kommen meine deutschen Bekannten bei der Diskussion jedes beliebigen Themas im Zusammenhang mit Russland auf die unausweichliche Frage: „Ist Russland irgendwie weitergekommen auf dem Weg in Richtung Demokratie und liberale Werte, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben, oder tritt es noch immer auf der gleichen Stelle?“ Für mich klang diese Frage nach der Demokratie immer wie aus der Bibel: „Was ist Wahrheit?“ Ich fand mich in einer ähnlichen Lage wieder wie Pontius Pilatus, der einem Menschen begegnete, der wirklich wusste (oder glaubte zu wissen), was Wahrheit ist. Daher habe ich in den ersten Jahren meiner Bekanntschaft mit Deutschen und der deutschen Kultur begonnen, ernsthaft darüber nachzudenken, inwiefern ich auf eine so vielschichtige Frage nach Russlands Entwicklung hin zur Demokratie eine wirklich umfassende Antwort geben kann. Allerdings habe ich recht bald gemerkt, dass keiner vorhat, sich auf ein echtes Gespräch zum Thema einzulassen. Zunächst hatte ich angenommen, dass es sich um eine Frage wie „How do you do?“ handelt, auf die man mit „How do you do?“ antwortet, oder in unserem Fall: „Und wie läuft es bei euch mit der Demokratie?“. Doch auch hier hatte ich mich getäuscht. Mehrmals hörte ich Vorträge über das grundlegende Fundament der Demokratie – die liberalen Werte des Westens (natürlich angefangen beim alten Athen, über Rom bis hin zum heutigen Parlamentarismus, den Abschluss bildet die These von Francis Fukujama zum „Ende der Geschichte.

Ich brauchte einige Jahre um zu verstehen, woher dieses lebendige Interesse der Deutschen am Fortschritt der Demokratie in Russland rührt. Ich verstehe erstmals, dass viele Europäer, und insbesondere Deutsche, ganz aufrichtig auch ihren Partnern Wohlergehen* (ich weiß nicht, ob es ein noch passenderes Wort für die Beschreibung der aktuellen deutsch-russischen Beziehungen gibt) wünschen, in der Überzeugung, dass das euro-demokratische System den Schlüssel zu wirtschaftlichem und sozialem Erfolg darstellt.

Für mich handelt es sich hier um eine ganz wesentliche Erkenntnis, die ich dank der recht offenen Gespräche mit meinen deutschen Freunden und im speziellen im Rahmen der Treffen des Salon des garçons gewinnen durfte.

Mir scheint, dass auf russischer Seite die Schwierigkeit mit offenen und unvoreingenommenen Gesprächen darin besteht, dass wir den ernsten Kommunikationsstil der Deutschen als bevormundend empfinden – oft ohne Grund.

Nun kann ich meinen russischen Freunden sagen: „Die Deutschen haben tatsächlich viel und auch tragische Erfahrung darin, demokratische Institutionen aufzubauen, die aus einer aktiven und verantwortungsbewussten bürgerlichen Gesellschaft hervorgehen.

Am 6. Dezember fand in Ivanovo die Sitzung eines regionalen Clubs von Wissenschaftlern und Unternehmern statt, auf der Dr. Sergey Savchuk einen Vortrag über die Club-Kultur in Deutschland und die Bedeutung von solchen Vereinigungen für das öffentliche Leben hielt.

Das Interesse für die europäischen Erfahrungen zur Entwicklung von Institutionen der gesellschaftlichen Selbstorganisation wird in Russland immer offensichtlicher. Zum Beispiel wurde im Regionalparlament von Ivanovo ein spezielles Komitee zur Entwicklung von Instituten der Bürgergesellschaft eingerichtet, das Alexander Petelin leitet, mit dem einige Mitglieder des Salon des garçons persönlich bekannt sind, und der auch den Vorsitz im obengenannten Club der Wissenschaftler und Unternehmer innehat.

Sigmund Freud und der Antipode der Demokratie

In der Unterhaltung mit Deutschen über russische Probleme kann nur ein Begriff der „Demokratie“ noch Konkurrenz machen, und zwar „Autoritarismus“. Dieses Wort erklingt so oft, dass man es fast nicht ignorieren kann, doch es zu diskutieren ist mit Deutschen, wie ich es bereits früher angemerkt habe, sehr schwierig. Man kann eigentlich nur aufmerksam zuhören. Mühsam konnten wir mit einem Gesprächspartner des Salons des garçons herausarbeiten, dass ein autoritäres Regime auch auf demokratischem Wege etabliert werden kann, gar als Ergebnis freier Willensäußerung. Daher ist der Autoritarismus nicht das Gegenteil von Demokratie, was bei einer relativ oberflächlichen Diskussion nicht offensichtlich scheint. Eine tatsächliche Gefahr geht für die Demokratie von der Manipulation des Bewusstseins der Massen aus, die den Menschen den freien Willen entzieht. Diese Manipulation kann in ihrer Form recht harmlos daherkommen, läuft aber auf eine Entmenschlichung hinaus.

Meiner Einschätzung nach liegt der besonderen Empfindlichkeit Deutscher gegenüber der Frage des Autoritarismus ein im nationalen historischen Gedächtnis verankerter Heldenkult zugrunde. In der deutschen Realität fehlt es an Helden, etwa aus den Legenden um Beowulf, um die Nibelungen. Gerade weil das Bild des Helden mit dem Autoritarismus assoziiert wird, der im 20. Jahrhundert Deutschland teuer zu stehen kam, stehen Helden nun „unter Verschluss“.

Mir scheint, es besteht ein gewisser Neid gegenüber Russen (und auch anderen gegenüber), dass diese über ihre Nationalhelden reden und auf große Taten ihrer Vorfahren stolz sein können. Wir können mit großer Begeisterung klassische Komponisten wie Tschaikowski hören, aber eben auch entspannt den heroischen Klängen eines Wagner lauschen.

Hier erinnert man sich doch gleich an den in Russland sehr bekannten österreichischen Psychiater Sigmund Freud, der darauf hinwies, dass unerfüllte (unterdrückte) Wünsche im Menschen einen inneren Konflikt und äußeren Protest hervorrufen.

Die Leute auf dem Bolotnaya-Platz

Aber nun doch noch zur aktuellen Lage. Wer ist im Dezember 2011 in Moskau aus Protest auf die Straße gegangen und warum? Die Organisatoren der Protestaktionen und ihre Losungen hatten meiner Meinung nach wenig gemein mit den Positionen und der Motivation der Mehrheit der Menschen, die an den Straßen-Meetings teilnahmen, die sich natürlich ihrerseits im Alter, in ihrem sozialen Status und in ihren Überzeugungen unterscheiden. Dennoch scheint mir wichtig, dass unter den Teilnehmern nicht wenige waren, die sich selbst vor einiger Zeit noch für völlig unpolitisch hielten und auf die Politik und ihre Politiker „pfiffen“. Das sind Vertreter der sogenannten „kreativen“ Klasse – Menschen, die sich im Unternehmertum, der Wissenschaft, der Bildung, als Ingenieure, im sozialen oder anderen Bereichen engagieren wollen. Ihre Motivation lautet etwa so: „Ich möchte nicht, dass ich in den kommenden 12 Jahren bei der Umsetzung meines schöpferischen Potenzials ständig an irgendwelche Grenzen stoße.“ Sie kritisieren, dass sich das derzeitige politische System und die wirtschaftliche Praxis mit ganz wenigen Ausnahmen auf eine Umverteilung der vorhandenen Ressourcen orientieren, mit dem Ziel, „jetzt und hier“ einen Vorteil zu erlangen.

Es besteht praktisch kein Interesse daran, längerfristige Lösungen mit Perspektive zu finden. Aufgrund ihres kultivierten Benehmens, ihrer Bildung und ihres Verantwortungsbewusstseins der Wirklichkeit gegenüber fehlt diesen Menschen, die an den Meetings teilgenommen haben, jede Neigung zum Extremismus oder gewalttätigen Handlungen. Die Form ihrer Reaktion kann aber zum bürgerlichen Ungehorsam und zur Diskreditierung der staatlichen Institutionen im Bewusstsein der Massen führen.

Diese Menschen schweigen momentan noch still, sie halten überwiegend still, aber sie denken schon nicht mehr nur still vor sich hin. Noch sprechen sie der aktiven Elite das Recht auf eine konstruktive Antwort nicht ab, aber sie glauben immer weniger daran.

* im Original lautet der verwendete Begriff „Blühen, Aufblühen“, Anmerkung der Übersetzerin

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